18.02.2013

„Aufstocker“, „Amazon“-Skandal, Mindestlohn-Debatte und das Prekariat: Ausbruch aus dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ oder weiter Huldigung von Arbeitsfetisch und Wachstum? Zu Arbeits- und Wirtschaftsethik in der postindustriellen Gesellschaft zwischen Materialismus und Postmaterialismus

Die Ansätze mehr oder minder intensiv geführter Debatten um Sinn oder Unsinn einer 30-Stunden-Woche oder gar eines bedingungslosen Grundeinkommens stellen Grundsätze des Arbeitsfetisch (Robert Kurz) und damit von Materialismus und Wachstumslogik im postindustriellen Kapitalismus in Frage. Die politischen Weichenstellungen zur Einführung eines Mindestlohns tun dies nur sehr bedingt. 


 Demonstration für ein Bedingungsloses Grundeinkommen am 14. September 2013 in Berlin

Der Geist von Max Webers „protestantischer Arbeitsethik“ schwebt dieser Tage wieder als Folie aller gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Debatten mit, die um Arbeit oder „Faulheit“, um Wirtschafts-Wachstum oder „Décroissance“, um Materialismus oder Postmaterialismusgeführt werden. Tief in der „deutschen Seele“ (Buchtitel von Thea Dorn/Richard Wagner (2012)) ist der Drang nach stetiger Beschäftigung, nach rastlosem Arbeiten, nach „vorwärts“ strebender, produktiver Betriebsamkeit, seit Jahrhunderten verwurzelt; genauer gesagt seit der Reformation. Luthers Konzept des „Berufs“ änderte das Verständnis von Arbeit: Schnöde, rein der Existenzsicherung und der Selbstversorgung dienende Arbeit wurde zu einer höheren Tätigkeit stilisiert, zu der jeder Mensch „berufen“ sei. In den calvinistischen Territorien Europas und Nordamerikas (v.a. der späteren Vereinigten Staaten von Amerika) wurde das Streben nach Wohlstand durch rastlose Arbeit im Diesseits, in„innerweltlicher Askese“, zu einer auf der sogenannten Prädestinationslehre Calvins fußenden religiösen Suche nach Bestätigung göttlicher Gnade im Jenseits; Wohlstand wurde als Zeichen einer solchen Auserwähltheit angesehen. Diesen Zusammenhang legte in der Phase der Hochindustrialisierung des Deutschen Reiches und anderer europäischer Staaten, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Max Weber in seiner Schrift „Die protestantische Arbeitsethik und der Geist des Kapitalismus“ dar. Er sah in dieser Arbeitsethik die Basis für die kolossale wirtschaftliche Dynamik, die (West)-Europa (zuerst England) und Nordamerika in den Jahrhunderten nach der Reformation erfasste und die in der Industrialisierung mündete. Benjamin Franklin, quasi die Fleischwerdung der Weber-These, wurde im 18. Jahrhundert zum Helden der „konservativen“, rechtschaffenen frühen „Amerikaner“ aufgrund seiner unermüdlichen quasireligiösen Predigten zu Arbeitsamkeit, Fleiß und Disziplin.

Aber auch in der „linken“ politischen Theorie, etwa bei Karl Marx, wurde Arbeit bzw. Arbeitskraft zu einem hohen Gut, das der Proletarier für Lohn und Brot, ergo zur Sicherung seiner Existenz, zu Markte tragen muss(te). Die „Arbeiterklasse“, die in der frühindustriellen Gesellschaft stand, beinhaltete bereits in ihrer Bezeichnung die Arbeitskraft als ihre Essenz; die Arbeiter- oder „soziale Frage“ war das wohl dringendste Problem jener Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. An ihr und durch sie entzündeten sich die bis in die heutige Zeit überlebenden „Arbeitskämpfe“, mehr oder weniger hart geführte Aushandlungsprozesse zwischen Arbeitgebern (Besitzern der Produktionsmittel) und Arbeitnehmern (Proletariern) um Arbeitslöhne, Arbeitnehmerrechte, Arbeitsverträge und Arbeitszeiten. Der Luther'sche „Beruf“sbegriff bzw die Essenz der protestantischen Arbeitsethik, d.h. des Arbeitens als „Berufung“ oder wegen des Seelenheils, wurde durch die Industrialisierung und Proletarisierung breiter Schichten der Gesellschaft verdrängt zu Lasten einer wieder rein existenzsichernden Funktion von Arbeit. Was jedoch im 20. und 21. Jahrhundert bleibt von der Arbeits- und Akkumulationsethik ist der Wachstumsgedanke, Grundpfeiler des Kapitalismus, der ein doppeltes, binäres Ethos von Produktion und Konsumtion in jedem Wirtschaftssubjekt voraussetzt: Der Arbeiter soll am Tag asketisch, diszipliniert und gewissenhaft seiner Tätigkeit produzierend (oder dienstleistend) nachgehen, abends oder in seiner Freizeit aber möglichst enthemmt, hedonistisch und materialistisch konsumieren. Das Produzierende Selbst basiert dabei auf dem Konsumierenden Selbst (David Bosworth/Roland Benedikter), denn ohne den Konsum, die Nachfrage des „Hedonisten“ gäbe es keinen Bedarf für die Produktion bzw das Angebot der Güter oder Dienstleistungen des „Asketen“. Diesen Nexus bezeichnete Weber als ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“: jeder, der sich im Wirtschaftskreislauf befindet, sei in ihm gefangen. Ins Englische ist dieser Begriff sogar, noch etwas drastischer, als “iron cage“ (eiserner Käfig), übertragen worden.

Die Zeiten der Hochindustrialisierung sind (jedenfalls für die hier behandelten Regionen, Europa und Nordamerika) heute, im 21. Jahrhundert, vorbei, wir leben in der „nachindustriellen Gesellschaft“ (Daniel Bell); all unsre menschlichen (materiallen und physischen) Grundbedürfnisse sind in dieser Gesellschaft – vom wirtschaftlichen Standpunkt betrachtet - erfüllt oder zumindest relativ leicht erfüllbar. Der Wirtschaftsschwerpunkt hat sich bei uns von der Industrie bzw. Produktion auf Gewerbe bzw. Dienstleistungen verlagert; den klassischen Fabrikarbeiter aus der Zeit von Marx und Weber wird man heute kaum noch finden. Durch Maschinisierung und andere Rationalisierungs- und Effizienzsteigerungsprozesse sind viele anstrengende, zeitaufwändige und gesundheitsschädliche Arbeiten heute glücklicherweise nicht mehr der Teil der (westlichen, postindustriellen) Arbeitswelt (von anderen Weltteilen (leider) zu schweigen). Der Arbeitsaufwand, der heute nötig ist, um den gegenwärtigen Lebensstandard dieser unsrer postindustriellen Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ist im Vergleich zu vor Jahrzehnten auf einen Bruchteil an Zeit zu beziffern. Doch die Wachstumslogik und der Arbeitsfetisch haben sich in den Köpfen nicht rationalisiert bzw nicht der Zeit angepasst: Hier sind die kulturellen Prägungen aus der Zeit von Franklin und der Industrialisierung immer noch dominant; es scheint den Wirtschaftskapitänen und auch vielen anderen nicht begreiflich (oder für manche auch aus ideologischen Gründen nicht wünschenswert), dass heute durch Reduzierung der Arbeitszeiten keine Gefahr für den gesamtgesellschaftlichen Lebensstandard droht. Der Teufel des „Minuswachstums“, also der „Decroissance“, wird immer noch an die Wand gemalt, der drohe, wenn Arbeitszeiten verkürzt (oder Löhne auf über Prekariatsniveau angehoben) würden. Selbst wenn dem so ist, wäre dies langfristig gesehen mit Blick auf Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung durch unser momentanes Wirtschaften und Konsumieren ökologisch und auch mit Blick auf den sozialen Frieden uns eher nützlich als schädlich. Stattdessen werden die Vorteile von weniger Arbeit, d.h. mehr Freizeit, für die Psyche der Menschen und für das Niveau an Zufriedenheit, als „Faulheit“ oder „Selbstverwirklichungswahn“ abgetan. Nur Arbeit im „stahlharten Gehäuse“, d.h. offensichtlich produktive Arbeit für die Wirtschaft, ist in dieser Ideologie „gute Arbeit“; Arbeit, die vorrangig gesamtgesellschaftlich orientiert ist (z.B. Aktivismus, Wohltätigkeitsorganisationen), zur eigenen Selbstverwirklichung oder der anderer, z.B. durch ((akademische oder andere) (Menschen-)Bildung, Ausbildung oder Information, dient oder (bzw. und eventuell dadurch) das eigene Wohlbefinden befördert, nicht. Der Übergang von einer materialistischen zu einer postmaterialistischen Denkweise bzw Gesellschaft könnte ordnungspolitisch durch Einführung eines bedingunglosen Grundeinkommens oder zumindest einer Arbeitszeitverkürzung vorangetrieben und gestaltet werden.



Wenn die nachindustriellen Menschen aus dem „stahlharten Gehäuse“ des kapitalistischen Arbeitsfetisch befreit werden sollen, muss ihnen einerseits, entweder durch anständige, existenzsichernde Löhne oder durch ein auf demselben Niveau liegendes bedingungsloses Grundeinkommen, die Angst vor (drohender oder bereits real existierender) sozialer Not oder prekären Lebensverhältnissen genommen werden, andererseits, durch mehr Freizeit die Möglichkeit der Selbstverwirklichung, Reflexion von Dingen oder „Arbeit“ in Bereichen bzw Beschäftigung mit Themen, die vielleicht außerhalb ihres Arbeitsfeldes liegen, gegeben werden. Dass die Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens für jeden kein Problem für das Sozialsystem bzw den Staatshaushalt darstellt, ist erwiesen; ebenso, dass Arbeit in vielen Bereichen problemlos von wenige auf mehr Schultern verteilt werden könnte.

Leider sieht die Realität anders aus: Ausbeutungsmechanismen und menschenverachtende Profitgier sind gang und gäbe, wie die jüngst an die (plötzlich darob entrüstete) Medienöffentlichkeit gelangten Skandale um die Praktiken von Amazon und anderer Versandhändler und Paketdienste zeigen. Diese sind aber nur die Spitze eines Eisbergs an prekären, ans 19. Jahrhundert erinnernden Arbeitsverhältnissen, die leider im Deutschland und Europa des 21. Jahrhundert eine Renaissance erleben. Zudem wird Arbeitslosigkeit kulturelle als unmoralisch und als selbstverschuldetes Schicksal, nicht als den Umständen geschuldete Nebenwirkung des Arbeits- und Überarbeitungsfetisch gesehen. Kurzfristige Arbeitsverträge und prekäre Arbeitsverhältnisse lassen Millionen von Menschen in ständiger Unsicherheit leben und befördern nicht nur „die soziale Schere“ in den Geldbeuteln, sondern auch in den Köpfen, d.h. soziale Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft. Doch anstatt die Probleme in einer Debatte um den Arbeitsfetisch zu lösen, werden angesichts von Arbeitsfetisch-Indoktrination, Uninformiertheit und weil sie das leichteste Opfer sind, Arbeitslose, Teilzeitbeschäftigte oder (andere) Empfänger staatlicher Transferleistungen (oft genug lange arbeitende Menschen, die dennoch „aufstocken“ müssen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können) als Sündenböcke genommen, auf die der Frust und der Spott der Masse der Gesellschaft projiziert wird. Die dem Arbeitsfetisch huldigenden (rechten) Massenmedien (v.a. jene des Bertelsmann-Konzerns und des Springer-Verlags) befördern diese Entwicklung noch durch „Assi-TV“ oder andere, mehr sensationell polarisierende als rational analysierende, Programme bzw Schlagzeilen („Sozialschmarotzer“ etc.). Dass die wenigen 1-2% Prozent an der Spitze der sozialdarwinistischen Einkommenspyramide (die aber den Löwenanteil (40-60%) am globalen Gesamtvermögen besitzen) stündlich bis täglich nur durch Zinsen auf ihr angelegtes Geld, d.h. anstrengungslos und ohne dem Arbeitsfetisch zu huldigen oder in einer 40-Stunden-Woche zu buckeln, ein Vielfaches dessen einstreichen, was ein Hartz-IV-Empfänger monatlich zur Aufrechterhaltung eines recht kärglichen Lebensunterhalts erhält, machen sich die wenigsten bewusst bzw dies wird von (Massen-)Medien so gut wie nie verdeutlicht. Das ist die Dekadenz der „sozialen Schere“ und die Diskrepanz in Einkommen und medial inszenierter und beförderter verzerrter Wahrnehmung zwischen den vermeintlichen (eben jenem 1% an der Spitze) und den wirklich für die Gesellschaft wichtigen „Leistungsträgern“ (d.h. jenen, die für das Funktionieren der Gesellschaft und den sozialen Frieden nützliche Arbeiten verrichten, z.B. im Lehrbetrieb in Schulen und Universitäten oder in der Pflege, im Gesundheitsbereich). So werden aber materialistisch-konsumistische Einstellungen in den Köpfen verstärkt, nicht abgebaut; dies nützt natürlich vor allem den den Großteil des aus dem Konsum abschöpfenden Granden der Wirtschaftsunternehmen. Refeudalisierung par excellence: Die Lohnabhängigen (und das Prekariat) führen durch medial angeregten Hedonismus und Konsum wie im Feudalismus quasi den Zehnten an den Geldadel ab; dieser vermehrt sein Einkommen zusätzlich noch durch die Akkumulation von Zinsen auf seine Geldanlage; die Schere geht unaufhörlich weiter auseinander.

Marx unterschied zwischen dem „Proletariat“, das ein zwar geringes, aber geregeltes Einkommen bezog (heute die eben jene Massenmedien konsumierenden Schichten geringen bis mittleren Einkommens) und dem „Lumpenproletariat“ der Verarmten, die nicht Empfänger eines geregelten Einkommens waren (heute das „Prekariat“). Statt „Klassenkampf“ zwischen diesen beiden Schichten zu befördern, müsste ein Umdenken stattfinden, das letztlich zu einer Entkopplung des Geldnexus bzw finanziellen Auskommens vom Arbeitsfetisch führt. Statt einer Gesellschaft, die solchermaßen (in der „Dritten Welt“ industrielle, ansonsten) post-industrielle Arbeitssklaven ausbeutet und marginalisiert, sollte eine Gesellschaft von (finanziell) zwanglos lebenden Menschen angestrebt werden. Die Debatte um den Mindestlohn ist ein erster Schritt. Diese ist allerdings weiterhin im materialistischen, nicht postmaterialistischen Denken verhaftet; sie befeuert keine neuen gesamtgesellschaftlichen oder wirtschafts- bzw ordnungspolitischen Denkanstöße in diese Richtung: ein Mindestlohn gestaltet nur den alten Arbeitsfetisch, „das stahlharte Gehäuse“ materiell etwas erträglicher, quasi ein Zuckerbrot als Ausgleich zur täglichen und wöchentlichen Peitsche der harten, zeitraubenden, oft eintönigen und nicht selten gesundheitsschädlichen Arbeit (die bei vielen zu „Burn out“, Depressionen, Stress und daher oft zu Frühverrentung bzw verfrühtem (Zwangs-)Ruhestand führt). Debatten um eine radikale Verkürzung von Arbeitszeiten und ein bedingungsloses Grundeinkommen müssten eine breitere Öffentlichkeit finden, um an den Grundfesten des kulturell und ideologisch noch tief verankerten Arbeitsfetisch zu rütteln.

Literaturhinweise:
K
aesler, Dirk (Hrsg.), „Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, 3. Aufl., vollst. Ausg., München 2010 (Erstpublikation in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 20. Bd., Heft 1, S. 1-54 (1904), 21. Bd., Heft 1, S. 1-110 (1905)).

Bell, Daniel, „Die nachindustrielle Gesellschaft“, Frankfurt a. M. 1975 (
The Coming of the Postindustrial Society, New York 1974) sowie „Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus“, Frankfurt a.M. 1991 (The Cultural Contradictions of Capitalism, New York 1976).

Benedikter, Roland (Hg.), „Postmaterialismus“, v.a. Bd. 1: „Einführung in das postmaterialistische Denken, Bd. 2: „Der Mensch“, Bd. 3: „Die Arbeit“, alle Wien 2001 (insg. 7 Bd.e, Wien 2001-2005)

Inglehart, Ronald: 
Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt am Main / New York 1998.


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